Unser Leidensweg

Russeneinmarsch bis zur Aussiedlung

(von Josef Hobler, Bürgermeister von Stadt-Liebau) (Bärner Ländchen; Dezember 1953)

Die Gerüchte von unserer Aussiedlung verstärkten sich immer mehr. Wir wollten es aber noch immer nicht glauben und es war auch von Seiten der Tschechen strenge verboten, darüber zu sprechen; wahrscheinlich wollte man durch diese Verschleierung unseren Arbeitswillen nicht schwächen. Als sich aber die Kunde verbreitete, dass in der Zwittauer Gegend und in Römerstadt bereits ganze Dörfer plötzlich abtransportiert wurden, war es uns wohl immer klarer, dass auch wir eines Tages die alte Heimat werden verlassen müssen. Inzwischen waren auch die umliegenden Dörfer nach und nach mit tschechischen und slowakischen Neusiedlern besetzt worden, und es erging den deutschen Brüdern in diesen Gemeinden je nach der Menschlichkeit des dortigen Kommissars etwas mehr oder weniger schlecht als uns Liebauern. Die Neudörfler wurden eines Tages nach Liebenthal umgesiedelt. Die Dörfer Altwasser, Kriegsdorf, Siegertsau und Milbes blieben unbesetzt und standen nach der Aussiedlung vollständig leer.

Der Gottesdienst wurde nun für Deutsche und Tschechen gesondert abgehalten. Jeden Sonntag hatten die Deutschen um 1/2 8 Uhr Messe und Predigt, um 8 Uhr abends Segen, die Tschechen um 10 Uhr Hochamt und um 2 Uhr Segen. Übereifrige Kirchenbesucher waren die meisten tschechischen Neubürger nicht, während der deutsche Gottesdienst immer recht gut besucht war. Unser Erzpriester Kolsdorf, der gerade im Jahr 1945 dreißig Jahre in Liebau wirkte, wurde von den Tschechen als Kollaborant (Mitarbeiter des Feindes) der Deutschen bezeichnet und musste mehrmals peinliche Untersuchungen über sich ergehen lassen. Pater Otto zeigte sich in diesen Notzeiten als wahrer Volkspriester, hielt die Führung mit den eingepfarrten Gemeinden aufrecht und war immer bereit, wo es notwendig war, Hilfe und Trost zu spenden.

Im Feber 1946 mussten alle Russen, die in unserem Gemeindegebiet und in den umliegenden Dörfern gefallen waren, ausgegraben und mit Kalk und Sägespänen in rotgestrichenen Särgen geborgen werden. 14 lagen auf dem Kirchenplatz und 20 an mehreren anderen Stellen in der Stadt. Die Arbeit musste selbstverständlich von den Deutschen besorgt werden. Diese war gerade nicht angenehm. Es kamen 66 Särge zusammen, die auf dem Ringplatz nach Absingen von tschechischen Liedern und einer Heldengedenkrede vom Militär übernommen und auf dem russischen Soldatenfriedhof in Freudenthal gebracht wurden. Dr. Hever leistete in dieser Zeit den ärztlichen Dienst in unserer Stadt. Anfangs Mai gruben wir auch die vierundzwanzig deutschen Toten aus, die beim Russenkampfe in den Gärten der Stadt beerdigt worden waren, und brachten sie auf dem Friedhof in zwei Massergräbern und in Loserts Gruft unter (Dir. Demel, Frau Feldm. Jünger, Hans Tirok, Oberl. Ulmann von Rudelzau u.a.). Am Sonntagnachmittag wurde unter grosser Anteilnahme der Bevölkerung vom Pfarrvikar P. Otto die feierliche Einsegnung vorgenommen. Begräbnislieder und die üblichen Gebete waren der letzte Gruß an unseren Toten, die nun auf dem Heimatfriedhof der ewigen Auferstehung entgegenharren.

Im Juli und August 1945 wurden mehr als 50 Mädchen und Frauen als Arbeiterinnen und Dienstboten in die Hanna gebracht; manche erlebten dort schwere Zeiten und mussten bis zur Aussiedlung bleiben, einige hatten freundliche Hausleute getroffen. Hart und schwer war für einige Familien die Aufforderung zur Rübenernte auf das Land in der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 1945. Unsere Leute hätten sicher bei humaner Durchführung dieser Maßnahme auch Folge geleistet. So aber drangen die tschechischen Verwalter in der genannten Nacht in der Zeit von 10 Uhr bis 4 Uhr mit schussbereiten Gewehren ganz unvermutet in die Häuser ein, weckten die Leute aus dem Schlafe und forderten sie auf, sich binnen einer halben Stunde marschbereit zu machen. Einige Kleider, Schuhe und Betten sollten mitgenommen werden, denn es gehe 4 - 6 Wochen in die Hanna zur Rübenernte. Unter den Ausgehobenen waren auch über 60-Jährige (Langer Schmied) und krüppelhafte Personen (Hoffmann Anna in der Windmühlgasse). Alle wurden aus den Häusern getrieben und unter ständiger Bewachung in die Arbeitsdienstbaracken gebracht. Am nächsten Morgen marschierten die 250 Ausgehobenen unter Polizeibewachung nach Domstadtl zur Bahn, von wo sie nach Schnobolin ins Lager gebracht und an die Bauern weiter verhandelt wurden. Über die unmenschliche Art dieser Aushebung und des Transportes haben sich sogar vernünftige Tschechen, wie der Kommandant der Gendarmerie, Klusak, abfällig geäußert. Als unsere Leute nach 6 - 9 Monaten, also von April bis August 1946 zurückkamen, fanden sie ihre Wohnungen leer; viele mussten mit ein paar lumpigen Hadern, die ihnen geschenkt wurden, aussiedeln. Einigen war es allerdings noch gelungen, in Begleitung ihrer tschechischen Hausleute früher nach Liebau zu kommen und sich aus ihren Wohnungen fehlende Kleider und Wäsche zu holen. Am 5. November 1945 wurden einige junge Männer und Burschen nach Karwin in die Kohlengruben geschickt; darunter waren auch die 14- und 15jährigen Kinder Gans Ferdinand, Hiemer Walter, Dreiseitel oswald, Zeiske und Olbort Johann. Die grobe Behandlung von seitens der tschechischen Wächter wurde von den jungen Leuten recht schwer empfunden. Nach wiederholten Anforderungen kamen die Burschen erst kurz vor der Aussiedlung zurück. Im Mai 1946 wurden sämtlichen Kleinbauern, die noch keinen tschechischen Verwalter hatten, Kühe, Ziegen und Hühner weggenommen, auch wenn sie die Felder mustergültig bestellt und sogar noch anderen Leuten bei der Feldbestellung geholfen hatten. Wohl hatte der mährische Landesausschuss in seinem Amtsblatte diese Maßnahmen und jede Drangsalierung der Deutschen verboten, weil dadurch das tschechische Volk in Verruf käme und das Ansehen der Republik leide, aber die Liebauer Kommunisten kümmerten sich nicht um dieses Verbot. Nahezu 1.000 Metzen (200 ha) Feld blieben im Frühjahr 1946 unbebaut, und im Herbst sind nach der Aussiedlung der Deutschen, wie einzelne zurückgebliebene Familien gemeldet haben, auf vielen Feldern Hafer und Kartoffeln nicht geerntet worden, von der Heuernte ganz zu schweigen, weil ja viele tschechische Verwalter gar keine Landwirte waren, von der Bauernwirtschaft wenig verstanden und das Mähen auf Gebirgswiesen mit der Sense nicht kannten.

Am Palmsonntag, dem 14. April 1946, kamen die ersten Liebauer zur Aussiedlung. Es waren 450 an der Zahl, mit ihnen auch Herlsdorfer, Waltersdorfer und Schmeiler. 50 Kilogramm Gepäck und 1.000 Reichsmark konnte jede Person mitnehmen. In den Arbeitsdienstbaracken wurde die mitgenommene Habe nochmals von einer Aussiedlungskommission gründlich überprüft. Wertvolle Sachen, neue Kleider, Schuhe und Stoffe wurden häufig weggenommen. Lastautos brachten die Ausgewiesenen in das Barackenlager nach Bärn, von wo sie zu je 30 in Viehwaggons über Böhm.-Trübau, Prag und Furth im Wald "heim ins Reich" gebracht wurden. Alle hatten noch zuvor das Elterngrab besucht, viele sich in der Kirche nach dem Empfang der Sakramente den Segen geholt, einige auch ein Päckchen Heimaterde vom Familiengrab oder von der Väterscholle mitgenommen. Viele waren froh, den Drangsalierungen zu entgehen, und zogen frohgemut fort in der Meinung, drüben im Reiche bei den deutschen Brüdern Verständnis, gute Aufnahme und eine zweite Heimat zu finden. Freilich gab es nach der Ankunft im Dillkreis in Hessen manche Enttäuschungen. Bei der zweiten Aussiedlung am 12. Mai 1946 wurden 10 Waggons, das sind 300 Liebauer, über die Grenze geschafft und in den Kreis Mosbach in Baden, in der Nähe des Neckartales eingewiesen. Die Familien sollten geschlossen ausgesiedelt werden, die Anforderung der Familienangehörigen, die im Tschechischen auf Arbeit waren, machten in letzter Zeit viel zu schaffen.

Weil die Arbeitskräfte immer weniger wurden, war die Anforderung an die Daheimgebliebenen immer größer. Als neue Arbeiten verlangten die Tschechen das Ausputzen des Mühlgrabens und die Herrichtung des Sportplatzes oberhalb des Freibades. Durch mehrere Wochen mussten in den Abendstunden und and den Samstag-Nachmittagen dort die Rasen abgetragen und das Erdreich planiert werden. Immer wieder suchten tschechische Bauern vom Lande Arbeitskräfte, und daher mussten noch im Sommer, als die Aussiedlung schon im vollen Gange war, einige Familien, wie Josef Mader, Losert Fleischer, Mader Maler, Swiersch Marie u. a. als Arbeitssklaven auf das Land und wurden später von dort ausgesiedelt. Als beim zweiten und dritten Transport an die Leute Aussiedlungsscheine ausgefolgt wurden, machte ihnen der bereits früher genannte Sekretär Schramek noch zur Aufgabe, die Straßen und den Ringplatz zu kehren und die Wasserleitung im Schulhof aufzugraben. Darin lag wohl eine Art Sadismus. Vom vierten Transport an bekamen die Heimatverwiesenen 70 kg Gepäck erlaubt, aber nur 500 Reichsmark Aussiedlungsgeld. Bei einigen Abschiebungen durften weder Koffer noch Laden zur Verpackung des Aussiedlungsgutes verwendet werden, sondern nur Körbe und Säcke. Koffer wurden nur dann zur Mitnahme gestattet, wenn sie überall angebohrt und eingeschnitten waren.

In neun Gruppen wurden die 2.200 Liebauer abgeschoben und in neun verschiedene Kreise der USA-Zone von der Salzburger Grenze bis hinauf zur Nord- und Ostsee verteilt. Einige Familien wurden vom Lande aus mit fremden Kreisen ausgesiedelt und sind auch hier im Westen ganz vereinsamt und verlassen unter lauter fremden Leuten. Außer den drei Mischehen, Pohanka, Janak und Lenhart blieben bloß zehn Familien als Facharbeiter in der Hallwachsfabrik zurück.

Die einzelnen Transporte wurden zugewiesen:

1. am 14.04.1946 450 Dillkreis in Hessen
2. am 25.05.1946 300 Kreis Mosbach in Baden
3. am 15.07.1946 15 Kreis Gießen in Hessen
4. am 02.08.1946 270 Kreis Kassel in Hessen
5. am 15.08.1946 300 Kreis Gießen in Hessen
6. am 15.09.1946 400 Kreis Augsburg, Günzburg, Illertissen in Bayern
7. am 27.09.1946 120 in Miltenberg a.A., Bayern
8. am 02.10.1946 180 in Laufen, Oby.
9. am 22.10.1946 90 Kreis Pfaffenhofen in Bayern
10. am 29.10.1946 30 Schwäbisch Gmünd 

So endet vorläufig mit der allgemeinen Tragödie der Sudetendeutschen auch das Schicksal der deutschen Stadt-Liebauer im Odergebirge. Vom großen Przemyslidenkönig Ottokar II. und dem Olmützer Bischof Bruno von Schaumburg waren unsere Ahnen um das Jahr 1280, also lange vor der Entdeckung Amerikas, aus der Gegend von Nürnberg in Bayern in das Odergebirge gerufen worden. Durch sechseinhalb Jahrhunderte haben sie die karge Gebirgsscholle bebaut. Nun wurden die 26. und 27. Generation nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg durch Hass und Fanatismus aus der alten Heimat vertrieben. Und daheim ist die Stadt menschenleer, weil die Neusiedler wieder abgezogen sind; die Häuser verfallen, die Felder veröden und verunkrauten.

Josef Hobler (1953)

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